Letze Woche erzählte Emilie uns von ihrer Erfahrung mit dem Thema Orthorexie. Hier folgt nun Teil 2 der Reihe.
Ab wann wird deine Ernährung zu gesund?
Das Gefährliche an einer Orthorexie ist, dass wir gar nicht genau merken, dass wir eine Krankheit haben. Wir fühlen uns gut, haben die volle Kontrolle über unseren Speiseplan, haben Spaß am Kochen und zuckerfreiem Backen. Wie erkenne ich also, dass das, was ich tue, krankhaft ist?
Es ist eine Gratwanderung – wo hört eine ausgewogene Ernährung auf und wo fängt zwanghaftes Gesund-Essen an? Es ist nicht leicht, eine Orthorexie zu diagnostizieren, in Deutschland wird das auch kaum gemacht. Am wichtigsten ist es, auf sich selbst aufzupassen und immer mal wieder zu hinterfragen: Warum verzichte ich gerade auf diesen Schokoriegel? Weil ich ihn einfach nicht möchte oder weil ich Angst davor habe, dass er nicht gut für mich sein könnte?
Orthorexie – eine Art Essstörung, aber keine anerkannte Krankheit
Es könnte ein schlechter Witz sein: Geht ein Mädchen zum Arzt und fragt ihn: „Ich bin total gesund, habe aber Panikattacken, wenn mein Weizengras alle ist und werde nervös, weil ich meinen zweiten Smoothie am Tag noch nicht getrunken habe. Bin ich krank?“
Was soll ein Arzt dazu sagen? Die Orthorexie als solche ist leider noch kein anerkanntes Krankheitsbild. Gerade weil bisher nicht genau definiert ist, was eine Orthorexie genau ausmacht, wird sie selten diagnostiziert. Ein krankhaftes Essverhalten wird meist erst dann vom Arzt richtig wahrgenommen, wenn eine andere Essstörung (z.B. eine Bulimie) hinzukommt. Es kam aber auch schon vor, dass Ärzte das zwanghafte Bedürfnis, sich gesund zu ernähren erkannten – und es dann als Anorexia nervosa einstufen, weil es die Orthorexie als Diagnose so noch nicht gibt.
Mediziner streiten sich, ob die Orthorexie überhaupt als Krankheit bezeichnet werden kann – ich jedoch bin davon überzeugt, dass die Orthorexie als Essstörung genauso ernstgenommen werden sollte, wie jede andere Form des zwanghaften Essens auch.
Woran unterscheidet sich die Orthorexie von anderen Essstörungen?
Bekannte und anerkannte Essstörungen befassen sich immer mit der Gesamtkalorienzahl, die ein Mensch am Tag aufnimmt, nicht aber mit der Zusammensetzung des Essens.
Bei der Orthorexie hingegen ist den Betroffenen die Menge des Essens egal: Was zählt, ist die Qualität des Lebensmittels.
Geprägt wurde der Begriff 1997 von Steven Bratmann, einem amerikanischen Arzt. Seitdem werden die Symptome einer Orthorexie immer wieder kontrovers diskutiert. Ist Orthorexie eine richtige Essstörung oder ein durch die Medien geprägter Begriff? Sind sich (zu) gesund ernährende Menschen wirklich krank? Wie kann man ihnen helfen? Es fehlt an Daten, der Forschungsbedarf ist hoch.
Wie erkenne ich Orthorexie?
Die folgenden Fragen können euch helfen, herauszufinden, wie gesund eure Beziehung zum Essen noch ist.
Die ersten 10 Fragen hat der Arzt Dr. Steven Bratmann entwickelt. Er hält eine Orthorexie für möglich, wenn ihr mindestens vier Fragen mit Ja beantworten könnt:
Denkst du mehr als drei Stunden am Tag über deine Ernährung nach?
Planst du deine Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
Ist dir der ernährungsphysiologische Wert deiner Mahlzeit wichtiger als die Freude am Essen?
Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung deiner Lebensqualität geführt?
Bist du in letzter Zeit strenger mit dir selbst geworden?
Verzichtest du auf Lebensmittel, die du früher gerne gegessen hast, um dich nun “richtig” zu ernähren?
Steigert sich dein Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
Schaust du auf andere herab, die dies nicht tun?
Fühlst du dich schuldig, wenn du von deiner Diät abweichst?
Bist du durch deine Essensgewohnheiten sozial isoliert?
Wenn du dich gesund ernährst, fühlst du dich dann glücklich, dass du alles unter Kontrolle hast?
Die folgenden Fragen möchte ich noch hinzufügen, da ich sie für die Symptomatik einer Orthorexie wichtig finde:
Fühlst du dich gestresst, wenn du in einen Supermarkt gehst? Nimmt das Level an Stress zu, wenn andere Menschen bei deinem Einkauf dabei sind?
Versetzt es dich in Unruhe, wenn du deine Ernährung nicht nach Plan durchführen kannst?
Bist du bereit wesentlich mehr Geld für gesünderes Essen auszugeben?
Hast du das Gefühl, dass deine Laune dein Essverhalten beeinflusst und umgekehrt?
Kontrollierst du jedes deiner Nahrungsmittel auf deren Nährwerte?
Zu guter Letzt: Ist eine Orthorexie gefährlich?
Eine Orthorexie wird dann gefährlich, wenn es den Betroffenen schwer fällt, ihre “gesunden” Lebensmittel zu beziehen. Wer plötzlich an Geldnot leidet, durch einen Ortswechsel mit einer anderen/geringeren Auswahl konfrontiert ist oder aus einem anderen Grund nicht mehr in der Lage ist, das zu essen, was er/sie für “gesund” und richtig hält, fängt an zu verzichten. Plötzlich reduziert sich der Speiseplan auf nur die wenigen “gesunden” Lebensmittel, die gerade noch zur Verfügung stehen – ein Nährstoffmangel und Kaloriendefizit kann schnell die Folge sein. Auch wenn eine zweite Essstörung hinzukommt, sollte den Betroffenen schnellstens geholfen werden. Wer neben Nährstoffen auch noch Kalorien zählt und eingrenzt, verfällt schnell in einen ernstzunehmenden Hungerzustand. Wer “nur” obsessiv auf die Qualität seiner Nahrungsmittel achtet, wird im Zweifel am schnellsten mit einer sozialen Isolation konfrontiert werden. Das ist nicht schön, auf keinen Fall ein gesunder Lebensstil, aber auch nicht lebensgefährlich. Dass Orthorektiker schnell in eine Depression fallen können, ist allerdings nicht auszuschließen.
Dieser Artikel wurde von Emilie verfasst. Seit ihrem 2. Unisemester bloggt Sie auf emiliestreats.de über ihre zwei Leidenschaften: Die Ernährungswissenschaft und Kochen.