Was wir heute essen treibt die globale Erwärmung an
Waldbrände in Nordamerika, Überschwemmungen in Asien - die letzten 12 Monate zeigen deutlich die Auswirkungen des durch den Menschen verursachten Klimawandels. "Die Emissionen müssen 2020 ihren Höhepunkt erreicht haben," haben Forscher*innen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung berechnet. Alleine 25 Prozent aller klimawirksamen Emissionen entstehen in Deutschland bei der Herstellung, Vermarktung und Zubereitung von Lebensmitteln und mehr als die Hälfte (58 Prozent) der Emissionen stammen aus tierischen Produkten.
Die Datenlage ist eindeutig, und trotzdem geht alles nicht schnell genug. Warum? Zum einen, weil ein klimaneutrales Ernährungssystem eine komplexe Aufgabe ist, zum anderen, weil es vielen von uns Angst macht, sich einschränken zu müssen. Wie können wir also den Weg in eine klimaneutrale, ja sogar klimapositive Zukunft ebnen - eine Zukunft, die wir als wünschenswert empfinden?
Ausgehend von dieser Frage haben wir nach innovativen Methoden gesucht, um ein positives, inspirierendes Zukunftsbild zu entwerfen. Zusammen mit der Zukunftsforscherin Friederike Riemer und dem Tech-Philosophen Felix M. Wieduwilt von The Future Game 2050 haben wir Anfang Oktober einen digitalen Roundtable zum Thema "Climate Smart Eating" veranstaltet. Mit 20 einflussreichen Expert*innen aus Politik, Industrie und Wissenschaft, haben wir in einer fiktiven Simulation das Leben und die Ernährung im Jahr 2050 beschrieben.
Der Weg in die Zukunft: Eine Simulation mit Zukunftsrollen
Beim Roundtable wurde das Workshop-Tool und Business-Rollenspiel The Future Game 2050 angewendet. Mithilfe archetypischer Zukunftsrollen, basierend auf der Zukunftsforschung, Trends und Science-Fiction-Storytelling, haben wir mögliche Zukunftsbilder im Jahr 2050 simuliert. Die Teilnehmer*innen schlüpften dazu in teils hoch technologisierte und teils menschliche Rollen, wie Globale Nomadin, Cyborg-Beraterin oder Bienenzählerin. In Gruppen für je einen der folgenden vier Bereiche - Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Handel, Ernährung der Verbraucher*innnen - wurden wünschenswerte, fiktive Zukunftsszenarien beschrieben. The Future Game 2050 nutzt bewusst Elemente aus Science-Fiction, Neurowissenschaften und Zukunftsforschung. So kann die nähere Zukunft (z.B. 2025) nicht aus der bekannten Vergangenheit oder Gegenwart einfach fortgeschrieben, sondern aus einer simulierten, fernen Zukunft (2050) „retropoliert“ werden. Im Gegensatz zur „Extrapolation“ entsteht durch die „Retropolation“ ein dringend notwendiger Perspektivwechsel.
2050: Deutschland is(s)t klimaneutral - Ergebnisse der Zukunftssimulation
(Bemerkung: Die im Folgenden beschriebenen Zukunftsszenarien sind mit dem Ziel einer Simulation im Präsens formuliert. Die Expert*innen des Roundtables sind davon ausgegangen, dass die Herstellung, Vermarktung und Zubereitung von Lebensmitteln in Deutschland in 2050 klimaneutral ist. Die Beschreibung der wünschenswerten Zukünfte basiert auf Fiktion.)
Landwirtschaft
Die aktuelle Situation der Landwirt*innen ist ausgezeichnet. In den letzten 30 Jahren sind neue Berufsbilder und Geschäftsmodelle im Bereich der landwirtschaftlichen Primärproduktion entstanden. Heute dominieren zwei Geschäftsmodelle:
1. Es gibt insgesamt weniger landwirtschaftliche Betriebe; diese Betriebe sind zu Haupt-Klimasenkern und Landschaftspflegern geworden. Durch das Halten von wenigen Tieren - entsprechend aller Kriterien des Tierwohls - werden Samen verbreitet sowie durch nachhaltigen Pflanzenanbau fördern die Betriebe maßgeblich Biodiversität und tragen führend zur Reduktion der Emissionen bei. Der Anbau von Pflanzen (inklusive alter, vergessener Sorten) bedient die steigende Nachfrage der Verbraucher*innen. Eine weitere Rolle dieser Betriebe ist es, zentrale Elemente der Biologie, wie Pflanzenanbau und Tierhaltung, zu vermitteln. Durch die Einführung des Fachs Ernährung und Gesundheit, konnte die sich in den 2020er Jahren abzeichnende Entfremdung der Bevölkerung von der Herkunft der Lebensmittel gestoppt werden. Die enge Zusammenarbeit zwischen Schulen und landwirtschaftlichen Betrieben hat uns enger mit der Natur zusammengebracht als seit der Industrialisierung je erlebt.
2. Ein Großteil der ursprünglichen landwirtschaftlichen Massenbetriebe ist in den 2020er Jahren umgebaut worden, zu kleinen, dezentralen Biogasanlagen für die Produktion von Mikroorganismen und Algen oder Insekten. Es haben sich vollkommen neue Einkommensquellen für diese Betriebe ergeben und zu Wohlstand geführt. Neue Rohstoffformen, die Mitte der 30er Jahre entdeckt wurden, nutzen wir heute in Form von Nährlösungen für die synthetische Fleisch- und Milchproduktion und produzieren damit klimaneutral. Aufgrund der Kopplung von individuellen Nährstoffbedarfen der Bevölkerung mit diesen dezentralen Betrieben ist es gelungen ohne Überschüsse zu produzieren. Die Betriebe sind klimapositiv und verzeichnen weiterhin ein enormes Marktwachstum.
Lebensmittelproduktion
Lebensmittelunternehmen nutzen für ihr Produktportfolio heute - im Jahr 2050 - die neuesten Technologien. Pflanzliche Rohstoffe werden mit 3D-Druckern hergestellt. Die Sensorik, das Mundgefühl und die Textur der Lebensmittel wurden dabei optimiert und personalisiert. Dadurch kann man gerade die Lebensqualität von Alten und Kranken bspw. Krebspatient*innen um ein Vielfaches verbessern. Die Lebensmitteltherapie erlebte durch diese Entwicklungen eine Revolution. Essen ist für uns weiterhin mit Emotionen, Nostalgie und Genuss verbunden. In einer Welt, in der Lebensmittel nicht mehr grundsätzlich natürlicher, sondern auch technologischer und laboratorischer Herkunft sind, ist es wichtig, vor allem aber möglich, dass eben diese Werte nicht vergessen werden. Lebensmittel schmecken natürlich und sehen auch so aus - auch wenn die Gans nicht mehr vom Feld, sondern aus dem Labor kommt.
Die Produktion von Lebensmitteln im klimaneutralen 2050 basiert unter anderem auf einem umfassend verbesserten Recycling- bzw. Verpackungssystem. Lebensmittelverpackungen sorgen dafür, dass die Ware länger als noch vor 30 Jahren frisch gehalten wird. Das umweltschädliche Plastik der 2020er Jahre ist vollkommen aus unserem Leben verschwunden. Landwirtschaft und Verpackungsindustrie haben es geschafft so zusammenzuarbeiten, dass genügend pflanzliche Rohstoffe generiert werden, um daraus klimafreundliche, teilweise auch essbare, Verpackungen herzustellen. Die Entwicklungen in der Lebensmittelindustrie sorgen dafür, dass es nicht nur klimaneutrale Produkte, sondern sogar klimapositive Lebensmittel auf dem Markt gibt. Diese sind entsprechend ihrer Güteklasse gekennzeichnet: Premium = klimapositiv, Basic = klimaneutral.
Lebensmittelhandel
Neben der Lebensmittelproduktion hat sich auch der Handel enorm verändert und den neuen Gegebenheiten in 2050 angepasst. Lebensmittel werden per Drohnen, Food Assemblies und mittels automatisierter Warentransporte zu den Konsument*innen gebracht. Unsere Wochenmärkte sind zu Treffpunkten des Verweilens, Probierens und Geniessens geworden. Aus Messen und marktähnlichen Formaten können frische Lebensmittel erworben werden. Der stationäre Handel ist vollkommen zu SuperGardens und SuperKitchens umgestaltet worden: Auf ihren Dächern und Wänden findet Urban Farming statt, so dass pflanzliche Lebensmittel ökologisch vor Ort angebaut werden können. Damit haben wir unseren Bezug zu Lebensmitteln und ihrem Ursprung verbessert.
Ein Thema an dem die letzten 30 Jahre ebenfalls stark gearbeitet wurde, ist die vollkommene Transparenz in der Herkunft und Produktion von Lebensmitteln, die für alle Konsument*innen intuitiv verständlich ist. Das neu eingeführte Lieferkettengesetz fordert, fördert und ermöglicht höchste Transparenz. Politik subventioniert in diesem Rahmen klimaneutrale und nachhaltige Wertschöpfungsketten. Eine wichtige Entwicklung ist zudem das True-Costs-Prinzip, Lebensmittelpreise bilden demnach eben auch die Umweltkosten der Produktion von Waren mit ab. Im globalen Kontext beinhalten klimaneutrale Produktion und Handel auch, dass Klima-Reparationszahlungen an beeinträchtigte Länder gezahlt werden.
Ernährungsroutinen
Der Trend geht dahin, dass gegessen wird, wenn man sich Zeit für etwas besonderes nehmen kann und möchte. Dazwischen erhalten wir Energie über Stoffwechsel-Switches. Besondere Anlässe, wie z.B. Weihnachten, sind für uns mit gewohnten Traditionen verbunden. Die Weihnachtsgans kommt aus dem Labor und lässt uns mehr denn je in reuelosen Genuss schwelgen.
Wie geht es weiter?
Diese kurze Zusammenfassung der Simulation zeigt, dass die Teilnehmer*innen in den Zukunftsrollen eine klimaneutrales Ernährungssystem in Deutschland beschreiben konnten. Die Zukunftsbilder enthalten viele fiktive Elemente und Szenarien, die notwendig sind, um den Schritt in das Morgen, also 2025, zu gehen. Lasst uns diesen gemeinsam gehen!
Dieser Artikel ist eine Dokumentation des Roundtables vom 6. Oktober 2020. Unter den Teilnehmer*innen waren u.a. Jan Rein (SatteSache.de), Michael Blasius (BKK Provita), Jana Gäbert (AGT Trebbin), Misava Macamo, Dr. Philipp G. Inderhees (DMK), Birgit Blumenschein (blumenschein Diät- und Ernährungstherapie), David Spencer (RHTW Aachen), Dr. Ina Henkel (Tenetrio), Tim Ritzheim (VWissen.org), Hannah Geupel (ALPRO), Prof. Dr. Hermann Lotze-Campen (Potsdam Institut für Klimafolgenforschung), Dr. Malte Rubach (Mr. Expert), Fabio Ziemssen (NX-Food), Mathias Tholey (the nu company), Dr. Margareta Büning-Fesel (Bundeszentrum für Ernährung), Dr. Kiran Virmani (Deutsche Gesellschaft für Ernährung), Dr. Doris Heberle (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft), Bastian Hörmann (ADM).
Conflict of interest-Erklärung:
Die Teilnehmer*innen waren in ihrer Funktion als Diskutant*innen der Einladung zum Roundtable gefolgt. Sie haben dafür keine Aufwandsentschädigung erhalten.
Inhalt und Fachredaktion:
Dr. Simone K. Frey, Lia Marleen Schmökel, Friederike Riemer, Felix M. Wieduwilt
v.l.n.r.: Felix M. Wieduwilt, Lia Marleen Schmökel, Dr. Simone K. Frey, Friederike Riemer