Longevity ist DAS Trendthema der Forschung. Die Menschen möchten länger leben und gesund altern. In den USA investieren Größen wie Peter Thiel und Jeff Bezos in Longevity-Lösungen. Hier in Deutschland wird die Longevity-Community langsam auch größer. Im März kamen unsere Expert:innen zusammen um sich im Expert Circle mit Dr. Stephan Barth zu diesem Megatrend auszutauschen. Dr. Stephan Barth ist Global Medical Affairs Manager bei Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG*. Im Interview mit Dr. Stephan Barth fassen wir die wichtigsten Einblicke zusammen: Was bedeutet longevity? Was bewegt die Verbraucher:innen und welche (wirtschaftlichen) Chancen ergeben sich daraus für Unternehmen, Startups und Ernährungexpert:innen? Soviel vorweg: Das Leitbild "Longevity" schafft für viele Menschen einen attraktiven „Hin-zu Motivator“ und ermöglicht damit ganz neue Wege der Ernährungskommunikation und Prävention.
Zu Beginn einmal kurz zu deiner Person: Wie bist du zu dem Thema Ernährung gekommen, was hast du studiert und wie bist du mit dem Bereich Longevity in Kontakt gekommen?
Nach meinem Studium Veterinärmedizin habe ich einige Jahre in der physiologischen Grundlagenforschung promoviert, meine Postdocs gemacht, eine Fachausbildung als Physiologe abgeschlossen und mich als Toxikologe habilitiert. Dabei habe ich gemerkt, dass mir Grundlagenforschung einfach nicht ausreicht, sondern ich in meiner Forschung eine Wertschöpfung für die Menschen brauche. Der Sprung in die Ernährungsforschung hat genau das erfüllt. Fast 20 Jahre habe ich mich in meiner Forschung am Max Rubner-Institut damit beschäftigt, wie Ernährung einen gesundheitlichen Nutzen im System Mensch auslösen kann. Und mit der wichtigste Nutzen für die meisten Menschen ist tatsächlich, möglichst bis ins hohe Alter gesund zu bleiben. Und das ist ja exakt das, was longevity ist bzw. als Ziel auch verfolgt und ermöglicht.
Warum Longevity? Was hat es mit dem Thema auf sich?
Ernährungsforschung ist ja meist im Bereich Prävention seltener in der Therapie angesiedelt. Will heißen: wie wende ich die Ernährung so an, dass ich von ernährungsmitbedingten Erkrankungen möglichst verschont bleibe. Gerade die „Volkskrankheiten“ haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten als globale Pandemien etabliert, die unsere Gesundheitssysteme extrem belasten und bald überlasten werden. Hier sind einige Krebsarten und das Metabolische Syndrom mit seinen Ausprägungen Adipositas, Typ-2 Diabetes und immer mehr die Fettlebererkrankung (NAFLD) zu nennen.
Und jetzt komme ich zu einem psychologisch sehr relevanten Punkt, wie nämlich die Verbraucher:innen, die Menschen motiviert werden können, einen gesunden Lebensstil zu leben: Denn in der Kommunikation den Verbraucher:innen gegenüber habe ich gemerkt, wie die „Krankheitsabwehr“ als Ziel einer gesunden Ernährung eigentlich viel zu negativ und angstbesetzt ist. Ernährung soll wie „eine Waffe im Kampf gegen Krankheit“ eingesetzt werden. Psychologisch schwierig und dem eigentlichen Motiv einer gesunden und nachhaltigen Ernährung auch nicht gerecht werdend. Dem gegenüber ist longevity – die lange Gesundheitsspanne – ein sehr positives Zielbild auf das man gerne sein Leben ausrichten möchte. Es ist nicht angstbesetzt und negativ, sondern ein sehr anziehender Motivator, der auch dem Bild einer gesunden Ernährung gerecht wird – longevity ist sexy, attraktiv und vital.
Noch nie waren Wissen und Möglichkeiten der präventiven Ansätze in der Ernährung so groß wie heute: Was hat Longevity mit Prävention zu tun? Und welche Rolle spielt dabei die Ernährung?
Das stimmt. Gerade in den vergangenen 10 Jahren hat die Forschung in allen Bereichen vom technologischen Fortschritt und Big Data extrem profitiert. Daher ist es auch immer besser gelungen, die Prozesse in unserem Organismus aufzuklären, die uns gesund erhalten bzw. bei Krankheit verändert sind. Beispielhaft seien hier die Funktion der Mitochondrien als Zellkraftwerke, die Regulation von Autophagie und Apoptose als Mechanismen der Zellregeneration und Müllabfuhr, die Themenbereiche Entzündung und Zellvergreisung (Seneszenz) sowie auch die Balance im Darm Mikrobiom genannt. Die Forschung wirft bei ihrer Arbeit aber nicht nur immer mehr Licht in die komplexen Gesundheitsnetzwerke in unserem Körper, sondern erarbeitet gleichzeitig immer mehr Möglichkeiten, diese auch von außen zu beeinflussen. Und genau dabei spielt der Lebensstil eine, wenn nicht sogar DIE zentrale Rolle – körperliche Bewegung, Stressmanagement sowie die Art unserer Ernährung bestimmen darüber ob diese genannten Mechanismen krank oder gesund verlaufen. Letzteres würde dann unsere Gesundheitsspanne verlängern – das ist longevity Ernährung.
Gibt es die EINE Longevity-Ernährung?
Diese Frage ist an dieser Stelle natürlich naheliegend und eindeutig mit „NEIN“ zu beantworten. Die menschliche Physiologie ist individuell sehr unterschiedlich. Und damit meine ich nicht nur unsere Genetik, sondern die zahllosen Prozesse in unseren Körperzellen, die nur indirekt mit unseren Genen gekoppelt sind und uns als Individuum wie ein spezifischer Fingerabdruck ausmachen. Daraus wird jetzt auch klar, dass es nicht nur generell sondern auch mit dem Ziel longevity immer mehr Ansätze einer sogenannten personalisierten Ernährung geben muss. Nur individuell angepasste Ernährung kann den eigenen Stoffwechsel so zielgerichtet beeinflussen, dass man die Chancen erhöht, seinem Leben ein paar gesunde Jahre mehr geben zu können. Unabhängig davon gibt es aber auch ein paar allgemeine Leitplanken, die für jeden gelten. Die bedarfsgerechte Kalorienzufuhr zur Kontrolle des Körpergewichtes und auch die Zufuhr ausreichender Mengen pflanzlicher Bioaktivstoffe zeichnen sich in immer mehr Studien als generell longevity-fördernd ab. Ob es dann aber Vegan/Flexie, Keto, Paläo oder Mediterran ist, was auf dem Label der persönlichen longevity-Diät steht ist dann eigentlich nicht mehr relevant, sondern dies bestimmt der persönliche Stoffwechsel in Verbindung mit den individuellen (sozialen) Lebenswelten, in denen sich der Mensch bewegt.
Welche Chance gibt es für Ernährungsexpert:innen, sich auf diesem Gebiet zu positionieren?
Wie bereits eingangs erwähnt, und das ist wirklich eine Chance die nicht unterschätzt werden darf, gibt es mit dem Zielbild „longevity“ ein sehr positives Motiv, wofür der Mensch gesunde Ernährung und gesunden Lebensstil machen möchte. Diese Sehnsucht hat doch insgeheim jeder Mensch, im Alter fit und gesund zu sein um endlich das Leben genießen zu können. Mit longevity schaffen wir daher einen „Hin-zu Motivator“, der nach meiner Einschätzung für viele Menschen attraktiver werden kann sich zu bewegen als die traditionellen „Weg-von Motivatoren“. Und davon können absolut auch bereits bestehende Ernährungskonzepte sehr profitieren, die bislang auf die Frage „WOFÜR mache ich das eigentlich“ keine wirkliche Antworten geben konnten – außer eben zur „Krankheitsabwehr“ und in letzter Zeit wichtig ergänzt durch Planet Health und Nachhaltigkeit.
Außerhalb der Ernährungsberatung und -Coachings eröffnet longevity auch wirtschaftliche Chancen. Immer mehr Startups mit longevity Services und Produkte finden potente Investor:innen und entwickeln sich auf dem immer größer werdenden Markt. Um mal eine Idee über das Potenzial zu bekommen, wurden weltweit in den vergangenen zwei Jahren 2021/2022 jährlich etwa 7 Milliarden US-Dollar in Gesundheitslösungen investiert, die mit longevity zu tun haben. Auch junge Unternehmen wie Amazentis, Elysium, ChromaDex oder Seraphina Therapeutics profitieren in ihrer Entwicklung von entsprechenden Investitionen zur marktreifen Entwicklung spezifischer longevity Nahrungsergänzungsmittel. Dies sind nur wenige Beispiele.
Was hat sich in der Forschung/auf dem Markt getan, dass das Thema Altern und damit Longevity zu einem Trendthema geworden ist? Was sind die größten Treiber?
Neben dem hohen Investitionsvolumen sind die modernen Life Sciences ein weiterer Treiber. Eben weil so viel Neues im Detail über die alterungsbedingten Signal Netzwerke herausgefunden wurde und sich diese Erkenntnisse in den nächsten Jahren noch weiter vergrößern werden. Komplementär dazu entwickeln sich Big Data Analysen auch unterstützt mit KI, die rasante Entwicklung digitaler Anwendungen im Gesundheitsbereich und auch der Einsatz von Gesundheitstrackern. Zusammengenommen entwickelt sich hier gerade ein regelrechtes Ökosystem an longevity Gesundheitslösungen, das sich einfach in unseren Alltag integriert und deshalb auch selbstverantwortlich genutzt werden kann.
Auch die Identifizierung passender Biomarker für longevity, deren klinischer Validierung und letztlich deren Anwendung für longevity Diagnostics, treiben die Marktentwicklung weiter an. Große Forschungsinstitute, wie z. B. das Buck Institute in USA, gewährleisten für longevity-Anwendungen die wissenschaftliche Verankerung.
Wie aufgeklärt sind Verbraucher:innen in DACH im Vergleich zu UK/USA/Rest der Welt zu dem Thema?
Das ist schwer zu sagen - meine Erfahrung aus Gesprächen mit Fachleuten aus dem Gesundheitsbereich ist eher, dass die meisten überrascht sind über das wirtschaftliche Schwergewicht dieses Trends. Verbraucher haben das Thema „longevity“ in Deutschland im Vergleich zu USA gar nicht auf dem Schirm – lediglich die „(digital) health Startup“ Region Berlin kann hier mit den USA mithalten. In der Biohacker Szene sieht das natürlich ganz anders aus. Zahlreiche Hacks sind genau darauf ausgerichtet, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit auf hohem Niveau und lange zu erhalten. Konzepte wie longevity sind hier auch deshalb mit im Fokus, weil die gute biochemische/physiologische Verankerung von longevity eben gerade in dieser Szene äußerst attraktiv ist. Wirkmechanismen lassen sich so gut erklären.
Kann Longevity ein neues Leitbild für „gesunde Ernährung“ werden?
Ich bin absolut davon überzeugt. Es ist als Zielbild eine ganz wichtige Komponente in modernen Ernährungskonzepten. Kritisch ist hier sicherlich die seriöse Kommunikation und auch der evidenzbasierte Aufbau entsprechender Ernährungs- und Gesundheitskonzepte. Was ich damit meine ist, dass es nicht das eine longevity Supplement geben kann, das regelmäßig geschluckt zu einem langen gesunden Leben führt, egal wie der Lebensstil aussieht. Das wäre natürlich quatsch, hört und liest man allerdings immer häufiger in Blogs und Firmenseiten. Longevity wird optimal durch ganzheitliche Konzepte adressiert. Ein Supplement kann individuell auch einmal eine Rolle spielen, aber immer integriert in lebensstilbasierte Gesamtlösungen. Das macht es so anspruchsvoll, aber auch so plausibel und so wirkmächtig!
Du bist einer von 170 Expert:innen, die beim Trendreport Ernährung 2023 mitgewirkt haben - welchen Trend wünschst du dir auf Platz 1?
Würde dich überraschen, wenn ich mir etwas anderes als „longevity“ auf Platz 1 wünschen würde?
* Transparenzhinweis: Die Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG ist auf die Forschung, Entwicklung und Herstellung von pflanzlichen Arzneimitteln, den Phytopharmaka spezialisiert.
Dr. Stephan Barth blickt auf eine breite Ausbildung als „Lebenswissenschaftler“
(Medizin, Zell- und Molekularbiologie, Physiologie und Ernährungswissenschaft) und viele Jahre Forschungsarbeit am Max Rubner-Institut, die begründen, dass er Gesundheit immer als eine komplexe Systemleistung versteht. Longevity sieht er einerseits als ein wissenschaftlich exzellent fundiertes Konzept und andererseits stellt es für ihn die Klammer für die unterschiedlichen Aspekte seines Gesundheitsverständnisses dar, in dem der Mensch mindestens so wichtig ist wie der Wirkstoff für den Therapie-Erfolg. Wer mehr über Stephan und seine Arbeit erfahren möchte, kann sich mit ihm auf LinkedIn in Verbindung setzen.
Dieses Interview wurde geführt von Roxanna Rokosa, NUTRITION HUB.