Sie gehört zu den TOP 5 Trends des Trendreports Ernährung 2022 und ihr Potential ist noch lange nicht ausgeschöpft - die "Personalisierte Ernährung". Wir haben jetzt schon Einblicke in die neuesten Studiendaten der Dualen Hochschule Baden Württemberg bekommen. Prof. Dr. Katja Lotz, Studiengangleiterin BWL Food Management der Hochschule, und ihre Kollegin Kathrin Friedrichs, Researcher "Personalized Nutrition", stellen klar - Personalisierte Ernährung gewinnt durch die voranschreitende Digitalisierung weiter an Fahrt und ist dennoch viel mehr als web- oder app-basierte Anwendungen. Um ihren Erfolg zu sichern, müssen alle Gesundheitsakteure sich verzahnen und eng zusammenarbeiten.
beide: Duale Hochschule Baden Württemberg
Im Dezember 2020 wurde die Forschungsgruppe „Personalisierte Ernährung“ an der praxisintegrierenden Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn (DHBW) ins Leben gerufen. Was erforscht ihr in diesem Projekt?
Kathrin Friedrichs: Ziel ist es, die vielfältigen Erkenntnisse zur personalisierten Ernährung zusammenzutragen und zu strukturieren. Wir wollen damit die Zukunftsfähigkeit der Personalisierten Ernährung überprüfen. Personalisierte Ernährung wurde im Trendreport Ernährung 2022 auf Platz 5 der wichtigsten Entwicklungen des Jahrzehnts gewählt. Die Forschungsgruppe stellt sich deshalb die Fragen: Wird sich die Personalisierte Ernährung langfristig zu einer neuen Ernährungsweise etablieren? Wie stellen sich Expert:innen die Zukunft der Personalisierten Ernährung vor? Um dies zu beantworten und erste Prognosen über zukünftige Entwicklungstendenzen der personalisierten Ernährung abzugeben, wurde eine Delphi-Studie in zwei Stufen erarbeitet: An die qualitativen Erhebungen in Form von Experten-Interviews in der ersten Stufe schloss sich eine quantitative Befragung mit einem standardisierten Fragebogen in der zweiten Stufe an.
Es tummeln sich viele Startups im Bereich der personalisierten Ernährung. Vor einigen Jahren herrschten Gen-Analysen vor. Nun nutzen immer mehr Startups kontinuierliche Blutzuckersensoren, um individualisierte Empfehlungen zur Ernähurng zu geben. Was ist der richtige Ansatz?
Katja Lotz: Es bestehen unterschiedliche Definitionen von internationalen Forschungsgruppen zur Personalisierten Ernährung. Allen Definitionen ist es gemeinsam, dass sich mehrere Einflussfaktoren auf die individuelle Ernährung vielschichtig gestalten. So umfassen diese Einflussfaktoren beispielsweise physiologische, genetische, psychologische und soziologische Dimensionen, sodass eine Personalisierung der Ernährung auf unterschiedlichen Ebenen möglich ist. Zur Strukturierung der Einflussfaktoren haben wir das folgende Schalenmodell entwickelt:
Zusammengefasst in den Schalen des Modells sind die Einflussfaktoren miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Der Grad der Individualisierung steigt von den äußeren zu den inneren Schalen. Dennoch ist die Personalisierung auf jeder Ebene des Modells möglich, unabhängig von der Nutzung vorangehender oder nachfolgender Schalen. Im Zusammenhang mit Personalisierter Ernährung wird häufig auch von einem holistischen oder ganzheitlichen Ansatz gesprochen. Im besten Fall bedeutet dies, die Ernährung auf allen im Schalenmodell dargestellten Ebenen zu individualisieren. Aber auch die Berücksichtigung von nur einer oder zwei Ebenen ist ein guter Weg, um den Einzelnen zu unterstützen seine Ernährung gesünder zu gestalten, und kann je nach Bedarf oder Verfügbarkeit um weitere Faktoren ergänzt werden.
"Im besten Fall wird Ernährung auf allen im Schalenmodell dargestellten Ebenen individualisiert." Prof. Dr. Katja Lotz
Wo steht die personalisierte Ernährung heute? Worin steckt das Potential?
Katja Lotz: Personalisierte Ernährung ist nicht neu. Die Ernährungsberatung durch Fachkräfte wie Diätassistent:innen, Ökotropholog:innen und Ernährungswissenschaftler:innen ist im Grunde die klassische Form der Personalisierten Ernährung. Überwiegend wurde und wird die Ernährungsberatung als therapeutische Maßnahme bei speziellen Lebensumständen, wie z. B. Schwangerschaft oder bei Erkrankungen, wie etwa Diabetes mellitus eingesetzt. Aber auch in der Prävention wird immer klarer, dass das Konzept "One-size-fits-all" keine Gültigkeit mehr hat. Mit den allgemeinen Ernährungsempfehlungen sind nicht alle gleich gut beraten.
In einer Marktanalyse unseres Teams wurde deutlich, dass es schon eine Vielzahl an Angeboten zur Personalisierten Ernährung gibt. Personalisierte Ernährung hängt unter anderem eng zusammen mit der Nutzung von web- oder app-basierten Anwendungen. Im therapeutischen Bereich sind zertifizierte digitale Gesundheits-Anwendungen, die DiGAs, vertrauenswürdige digitale Berater. Jedoch können einige Angebote außerhalb des therapeutischen Zwecks häufig als nicht sehr seriös eingestuft werden. Ein weiteres Potential der Personalisierten Ernährung steckt in der Prävention, z. B. bei der Vermeidung von nicht übertragbaren Erkrankungen wie Krebs, Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, Demenz. Alles Erkrankungen, die laut Prognosen in den nächsten Jahren zunehmen werden. Durch seriöse Konzepte der Personalisierten Ernährung im alltäglichen Gebrauch wird jedem die Möglichkeit gegeben, sich durch individuelle Empfehlungen gesünder zu ernähren, ohne den Genuss aus den Augen zu verlieren.
Was ist eine Delphi-Studie und was habt ihr herausgefunden?
Kathrin Friedrichs: Während der Planung der Delphi Studie wurden durch die Sichtung von Publikationen, Diskussionsrunden und Expertengesprächen sechs, an die Personalisierte Ernährung angrenzende, richtungsweisende Themenfelder identifiziert:
Genom und Stoffwechsel
Mikrobiota und Stoffwechsel
Verbraucherverhalten / Motivation / Akzeptanz
Technologie und Anwendungen
Politik und Verbraucherschutz
Markt und Handel
Die leitfadengestützten Interviews fanden zu diesen Themengebieten mit Expert:innen aus Wissenschaft, Lehre, Wirtschaft, Politik und Verbänden/ Vereinen statt.
Die Aussagen aus den Interviews wurden qualitativ analysiert, aggregiert, zu Thesen umformuliert und für die zweite Delphi-Runde in einen Fragebogen mit Bewertungsskalen zusammengefügt. Eine übergreifende, aber sehr wichtige Erkenntnis in dieser Runde war die Komplexität des Themas. Es wurde bereits während der Interviews deutlich, dass die Themenfelder miteinander verknüpft sind, voneinander abhängen und sich gegenseitig bedingen. Es wurde klar, dass sich die Disziplinen verzahnen und die beteiligten Akteure eng zusammenarbeiten müssen, um die Personalisierte Ernährung voranzutreiben.
"Um die Personalisierte Ernährung voranzutreiben, müssen sich die Disziplinen verzahnen und die beteiligten Akteure eng zusammenarbeiten." Kathrin Friedrichs
In der 2. Delphi Runde wurden dieses Jahr weitere Expert:innen eingeladen und mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Was war dabei Euer Ziel?
Kathrin Friedrichs: Es sollte herausgearbeitet werden, welche Faktoren ihrer nach Meinung zu einem ganzheitlichen Ansatz einer Personalisierten Ernährung gehören. Die Ergebnisse zeigen, dass die Expert:innen besonders den Phänotyp und Faktoren der Lebenssituation, Werte und Einstellungen und soziale Aspekte im Fokus sehen. Erst im zweiten Schritt werden physiologische und genetische Faktoren für eine ganzheitliche Betrachtung hervorgehoben. Dies spiegelt sich im Schalenmodell der Arbeitsgruppe in den äußeren drei Schalen als Lebensumstände, Anthropometrie und klinische Parameter wider. Außerdem wurde deutlich, dass für die biomedizinischen Faktoren wie Genom/Epigenom, Mikrobiota, Metabolom als Basis für eine Personalisierte Ernährung evidenzbasierte Ergebnisse aus der Forschung fehlen. Allerdings gaben 50 % der Befragten an, dass sie verwendbare evidenzbasierte Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in den nächsten 10 Jahren erwarten. Die Personalisierte Ernährung wird sich also mit fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter entwickeln.
Für wen eignet sich Personalisierte Ernährung besonders?
Katja Lotz: Aus Sicht der Expert:innen der Delphi Studie besteht eine Relevanz Personalisierter Ernährung für alle Altersgruppen der Bevölkerung, dabei besonders für die 30 – 59-Jähringen. Da Personalisierte Ernährung stark mit der Nutzung digitaler Produkte in Verbindung gebracht wird, liegt die niedrigere Nennung über 60-Jährigen möglicherweise an der geringeren digitalen Kompetenz. Jedoch sind die heute 30-59-Jährigen die zukünftigen Senioren und werden eine wesentlich höhere digitale Kompetenz mitbringen.
Expert:innen sehen eine Vielfältigkeit der Anwendungsbereiche Personalisierter Ernährung als präventive Maßnahme (63 %), in der Therapie von Krankheiten (72%) und im Profisport (75%). Mit der Rolle der Personalisierten Ernährung als Methode der Prävention wird sie Einzug in den Alltag finden, denn Gesundheitsvorsorge oder „Preventive Health“ gehört als ein Faktor zum Megatrend Gesundheit und fokussiert darauf, den individuellen Gesundheitszustand zu erhalten oder sogar zu verbessern.
Darüber hinaus sehen Expert:innen der Delphi-Studie einen Beitrag personalisierter Ernährung bei der Therapie von Krankheiten. Laut Prognosen wird erwartet, dass sich DiGAs als Teil der Gesundheitsversorgung etablieren. Im Profisport geht es natürlich auch um Gesundheit, aber hauptsächlich um Selbstoptimierung und Leistungssteigerung. Wenn es um den Ort geht, an dem Personalisierte Ernährung stattfindet, sprechen sich Expert:innen ganz klar für den eigenen Haushalt, innerhalb der Familie aus (78%). Der Einzelhandel (38%) sowie die Delivery Service und Gemeinschaftsverpflegung (jeweils (34%) wird weniger als der Ort des Geschehens gesehen.
Die Konzepte der Personalisierten Ernährung müssen für jeden erreichbar, nutzbar und finanzierbar sein, um als präventive Maßnahme Wirkung zu zeigen. Wie sehen das die Expert:innen?
Kathrin Friedrichs: Vor allem die Entwicklung in Form digitaler Konzepte, z.B. als App, unter Verwendung von Wearables, sehen einige der Expert:innen als kritisch für die gesundheitliche Chancengleichheit. Die Aussagen, dass durch die Entwicklung der personalisierten Ernährung auf digitaler Ebene nicht alle sozialen Schichten und Altersstufen erreicht werden, erhielt große Zustimmung. Trotzdem werden digitale Möglichkeiten wie Apps als eine der kostengünstigsten und massentauglichsten Lösungen für die Personalisierte Ernährung angesehen. Passend dazu stellt das Smartphone laut den Expert:innen in Zukunft das primäre Medium für die Personalisierte Ernährung dar. Technologie in der Personalisierten Ernährung wird sowohl bei der Messung benötigter Daten (Sensoren, Wearables, elektronische Kassenzettel etc.), bei der Aufarbeitung von Daten (mittels KI / Algorithmen) als auch bei der Abgabe von individuellen Empfehlungen an den Verbraucher (Apps / Wearables) eine wichtige Rolle spielen.
Hier spielt ja der Schutz der erhobenen Daten eine besonders große Relevanz. Ist das Vertrauen in den Datenschutz für personalisierte Ernährung erfolgsentscheidend?
Katja Lotz: Ja, da ist ein eindeutiges Ergebnis unserer Studie. Der Datenschutz wird neben Bürokratie und ethischen Vorgaben auf Systemseite als Hürde für die Etablierung der Personalisierten Ernährung gesehen. Auf Verbraucherseite sehen Expert:innen den „fehlenden Willen“ und „mangelndes Interesse“ als größtes Hindernis. Deshalb wird es darauf ankommen, zugängliche und bezahlbare Konzepte personalisierter Ernährung besser zu vermarkten und das Bewusstsein für Relevanz, Nutzen und Umsetzung durch zielgruppengerechte Kommunikation und Information zu wecken.
"Die Weichen der Personalisierten Ernährung werden in den nächsten 5 Jahren gestellt." Prof. Dr. Katja Lotz
Gerade hat das Startup Perfood eine DiGa-Zulassung für ihre Migräne App Sincephalea erhalten, die über personalisierte Ernährung als Migräneprophylaxe eingestuft wird. Wie schnell wird es weitergehen?
Katja Lotz: Laut unseren Expert:innen werden die Weichen der Personalisierten Ernährung in den nächsten 5 Jahren gestellt. Zu erwarten ist in den kommenden Jahren eine voranschreitende Digitalisierung. Sowohl WHO als auch auf EU- und Landesebene wird die Digitalisierung des Gesundheitssystems gefordert und gefördert. Die Umstellung von Papier- auf elektronische Rezepte ist ein bereits umgesetztes Beispiel. Diese Entwicklung wird vor Ernährung in Prävention, Beratung und Therapie nicht haltmachen und eröffnet damit viele Möglichkeiten gesunde Ernährung nachhaltiger an den Mann und die Frau zu bringen. Verbraucher:innen werden sich einer höheren selbstverantwortlichen Gesundheitskompetenz gegenübersehen, wobei digitale Tools unterstützen können. „Oviva – Dein persönlicher Ernährungscoach“ ist beispielsweise eine App, die bereits erhältlich ist, und mit über 100.000 Downloads auf Interesse stößt. Deutschland liegt bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems weit hinten und belegte laut einer Mc-Kinsey-Studie aus dem Jahr 2018 im Vergleich mit 16 internationalen Ländern den vorletzten Platz. In Vor-Corona-Zeiten schien die Skepsis der Digitalisierung gegenüber noch sehr hoch zu sein, evtl. hat sich dies durch die positiven Erfahrungen durch die Chancen der Digitalisierung positiv verändert. Dennoch ist hier noch viel Luft nach oben und es sollte jeder, ob Professional oder Verbraucher, offen sein für neue Wege, damit die Personalisierte Ernährung nicht Anbietern überlassen wird, die ohne Ernährungskompetenz aber mit hohem Digitalisierungswissen, Empfehlungen ausgeben. Die Zusammenarbeit über angrenzende Fachgebiete hinweg, wie z.B. Technologie, Ernährung, Kommunikation, Verbraucherschutz, Medizin, Handel und Industrie, wird ein wichtiger Faktor, um die Weichen in die richtige Richtung zu stellen.
Dieses Interview wurde geführt von Katharina Knoblich, NUTRITION HUB.
Katja Lotz arbeitet seit 2013 als Professorin an der praxisintegrierten Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn und leitet den Studiengang BWL-Food Management. Sie leitet das Forschungsprojekt „Personalisierte Ernährung und digitale Gesundheit“ und ist Mitherausgeberin der Schriftenreihe Food Management. Kathrin Friedrichs arbeitet seit Ende 2020 im Forscher:innen-Team zur Personalisierten Ernährung an der DHBW Heilbronn, wo sie als Diätassistentin und Ernährungswissenschaftlerin ihre berufliche Erfahrung im Bereich der Klinischen Forschung, mit Schwerpunkt auf den Zusammenhang von Mikrobiota und Immunologie einbringt.
Hier könnt ihr Euch mit Katja Lotz und Kathrin Friedrichs vernetzen.