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Trends verstehen und handeln: Insights von zwei Ernährungspsycholog:innen

Trends wie personalisierte Ernährung, pflanzenbasierte Alternativen oder Longevity boomen – doch warum setzen sich manche Entwicklungen durch und andere nicht? Und wie schaffen wir es, gesunde und nachhaltige Ernährung für mehr Menschen attraktiv zu machen? In unserem Trendreport Ernährung 2025 sprechen wir mit zwei führenden Ernährungspsycholog:innen, PD Dr. Thomas Ellrott und Prof. Dr. Britta Renner, über genau diese Fragen. Los geht es!

Die zehn Entwicklungen, die wir in unserem Trendreport beleuchten, bringen viel Veränderungspotential mit sich. Wie begeistern wir mehr Menschen für Trends und Innovationen, die sich positiv auf ihre Gesundheit oder die Umwelt auswirken?

Thomas Ellrott: Vertrautes schafft Sicherheit und erleichtert Entscheidungen beim Einkauf oder Essen außer Haus – ein wichtiger Mehrwert. Innovationen gelingen am besten leise, indem Rezepturen in kleinen Schritten angepasst werden, sodass sich Geschmack und Eigenschaften kaum merklich ändern. Eine laute Kommunikation erfordert ein durchweg positives Framing. Leider neigen Deutsche dazu, eher Risiken als Chancen zu sehen. Es gibt aber auch keine Vorzeigenation, in der alles in Sachen Ernährung perfekt läuft. Jedes Land ist anders – hinsichtlich Esskultur, Gewohnheiten, Bildungsstand und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Man kann jedoch von anderen lernen und prüfen, ob erfolgreiche Ansätze übertragbar sind.


Die eigene Gesundheit selbstbestimmt optimieren ist in diesem Trendreport ein zentrales Motiv - etwas, für das sich Ernährungsexpertinnen und -experten seit Jahren einsetzen. Warum wird dieses Motiv immer wichtiger und welche psychologischen Gründe stecken dahinter?

Britta Renner: Ernährung und Bewegung, zwei zentrale Elemente eines gesunden Lebensstils, haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen – sowohl in den klassischen als auch in den sozialen Medien. Hier werden gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und Gesundheitsvorsorge sichtbar inszeniert. Psychologisch gesehen entsteht so eine soziale Norm: Gesundheit wird als gesellschaftlich und individuell erstrebenswert wahrgenommen. Das fördert den Trend zur Selbstoptimierung und Achtsamkeit im Umgang mit der eigenen Gesundheit.


Noch nie war das Wissen über Ernährung bei den Menschen so groß. Trotzdem verändern sie ihr Verhalten nur langsam. Warum reicht Wissen allein nicht aus?

Britta Renner: Ernährungsverhalten ist ein komplexes System mit zahlreichen täglichen Entscheidungen: Was, wann, wo, mit wem essen wir – oder auch gar nicht? Dabei agieren wir oft im Autopilot, gelenkt von Gewohnheiten, verfügbaren Optionen und unbewussten Einflüssen. Diese prägen nicht nur einzelne Entscheidungen, sondern langfristig unsere Präferenzen und Verhaltensweisen. Unser Verhalten wird stark von unserer Ernährungsumgebung beeinflusst – also beispielsweise von den Lebensmittelpreisen, dem Angebot in der Kantine, der Zeit, die wir fürs Essen haben, und von vielem mehr. Diese Umweltfaktoren können Veränderungen trotz Wissen und guter Vorsätze erschweren.


Die Trends zu pflanzenbasierter und nachhaltiger Ernährung wirken sich gleichermaßen positiv auf Gesundheit und Umwelt aus. Aber den Verbraucherinnen und Verbrauchern fällt es offenbar schwer, sich umzustellen - und sie empfinden entsprechende Vorgaben als Bevormundung. Warum ist das so?

Britta Renner: Ernährung ist ein persönliches Thema, bei dem viele Menschen ungern „von oben herab“ belehrt werden. Dennoch gibt es laut Umfragen breite Zustimmung zu pflanzenbasierter und nachhaltiger Ernährung. Dies zeigt sich auch in diesem Trendreport, der den Anstieg flexitarischer Ernährung dokumentiert. Die Frage verweist jedoch auf ein anderes Phänomen: Ernährungsempfehlungen der DGE, die ausdrücklich als Empfehlungen und nicht als Vorschriften formuliert sind, werden oft genutzt, um ganz andere gesellschaftliche Debatten voranzutreiben.


Wie erklären Sie sich Gegentrends, wie etwa das Zelebrieren der Zubereitung von Fleisch?

Britta Renner: Essen ist ein zentraler Bestandteil unseres Soziallebens und stärkt Bindungen, Sympathien und die soziale Identität. Deshalb ist die Bratwurst eben auch ein großes Identifikations- und Zugehörigkeitssignal. Unser Essverhalten zeigt, wer wir sind oder sein möchten. Zudem spielt der psychologische Mechanismus der Reaktanz eine Rolle: Fühlen sich Menschen in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt, neigen sie dazu, genau die verbotenen Handlungen auszuführen.


Warum haben es Expertinnen und Experten und wissenschaftliche Institutionen vergleichsweise schwer, in Ernährungsfragen Gehör zu finden – im Gegensatz zu Influencern?

Britta Renner: Influencer kommunizieren anders als viele wissenschaftliche Fachgesellschaften. Sie erstellen meist sehr persönliche Inhalte für ihre Zielgruppen, die sich dadurch stark mit ihnen identifizieren. Im Gegensatz zu wissenschaftlicher Kommunikation werden die Botschaften sehr vereinfacht, sodass sie leichter konsumierbar sind.

Thomas Ellrott: Und es ist auch so, dass Menschen eher denen vertrauen, die sie kennen und mit denen sie sich ähnlich fühlen. Influencer übertreffen Expertinnen und Experten an dieser Stelle, da Follower das Gefühl haben, die Influencer gut zu kennen, fast wie Freunde oder Familienmitglieder. Dieses Vertrauen ist stärker als das zu Unbekannten.


Welche psychologischen Vor- und Nachteile bietet die Überwachung und Anpassung von Ernährungsgewohnheiten durch personalisierte Technologien?

Britta Renner: Wir haben in einer Studie die Wirksamkeit von Apps auf das Gesundheitsverhalten untersucht, insbesondere Apps, die Ernährungsgewohnheiten verbessern sollen. Das Spannende: Solche Apps funktionieren tatsächlich. Sie können helfen, Verhalten zu ändern, etwa in Bezug auf den Body Mass Index oder den Blutdruck. Allerdings sind sie keine „magische Lösung“ – die meisten Apps nutzen klassische Verhaltensänderungstechniken, so wie die traditionelle Ernährungsberatung auch.


Warum erleben Themen wie Frauengesundheit und Longevity einen Aufschwung?

Thomas Ellrott: Im November 2024 widmete „Der Spiegel” seine Titelgeschichte dem Thema Longevity. Das zeigt die tiefe Sehnsucht der Menschen nach einem möglichst langen und krankheitsfreien Leben. Der Anglizismus Longevity führt dazu, dass viele das Thema für sich neu entdecken. Das zunehmende Interesse von Ernährung im Kontext von Frauengesundheit zeigt, dass eine immer stärkere Personalisierung und Individualisierung der Ernährung längst in der Gesellschaft akzeptiert und auch nachgefragt wird. Und: Über beide Themen - Longevity und Frauengesundheit - wird stark zunehmend in den sozialen Medien diskutiert.


Welche Ansätze gibt es, um nachhaltige Ernährung mit Genuss und positiver Verstärkung z. B. beim Einkauf zu verbinden?

Thomas Ellrott: Die Klimawirkung von Lebensmitteln ist für die meisten Menschen beim Einkaufen nicht erkennbar. Ein verbindliches Klimalabel könnte hier eine wichtige Orientierungshilfe bieten: Es würde anzeigen, mit welchen Treibhausgasemissionen eine Portion oder Packung des Produkts verbunden ist. So könnten Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkaufen den Klimaaspekt neben Geschmack und Preis berücksichtigen. Wissenschaftlich ist Nachhaltigkeit jedoch komplexer, da sie nicht nur die Klimawirkung, sondern auch Flächenbedarf, Wasserverbrauch, Biodiversität und andere Faktoren umfasst.


Funktionelle Ernährung schaffte es in diesem Jahr auf Platz 4 des Trendreports. Was bringt Menschen dazu, funktionelle Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel zu konsumieren?

Thomas Ellrott: Bei funktionellen Lebensmitteln reizt sicherlich vor allem die Aussicht auf eine schnelle, spezifische Wirkung. Nahrungsergänzungsmittel vermitteln das Gefühl, alle wichtigen Nährstoffe zu sich zu nehmen. Für manche sind sie ein „Quick Fix” gegen eine unbedachte Lebensmittelauswahl.


Warum erleben Glukose-Sensoren und blutzuckerfreundliche Ernährung bei Gesunden einen Boom?

Thomas Ellrott: Diese Geräte erlauben es den Menschen erstmals, in Echtzeit einen Einblick in den eigenen Stoffwechsel zu bekommen. Der Blutzuckerwert ist ein für das Leben äußerst wichtiger Blutwert, den man zuvor nur aufwändig mittels Blutstropfen verlässlich ermitteln konnte. Glukose-Sensoren, sogenannte CGM-Geräte, ermöglichen es, den Blutzuckerverlauf über Wochen in Echtzeit zu verfolgen, ohne jedes Mal neu stechen zu müssen. Das ist absolut spannend, zumal es einige unerwartete Reaktionen auf bestimmte Lebensmittel geben wird. Kaum jemand erwartet sehr starke Blutzuckeranstiege nach ungesüßten Cornflakes mit Milch oder auch Toastbrot, die beide nur einen geringen Zuckergehalt haben. Hier ist der hohe Gehalt an verarbeiteter Stärke für die starke glykämische Wirksamkeit verantwortlich.


Welche Gefahren birgt die kontinuierliche Überwachung des Blutzuckerspiegels?

Thomas Ellrott: Das große Problem der CGM-Geräte ist, dass die Menschen die individuellen Messwerte ohne professionelle Unterstützung in der Regel nicht beurteilen können. Das kann sie verunsichern. Auch spezielle Formen von Essstörungen sind denkbar, z. B. eine extreme Fokussierung des Lebens auf die aktuellen Blutzuckermesswerte und erratische Gegenregulationsversuche. Eine solche „Glucorexie“ kann zu Leid führen. Dies würde per definitionem einer nicht klassischen Essstörung entsprechen.


Viele Menschen sind noch skeptisch gegenüber der Verwendung von künstlicher Intelligenz für die persönliche Ernährung und Gesundheit. Wie lässt sich Vertrauen in diesem Bereich schaffen?

Britta Renner: Vertrauen entsteht, wenn Menschen das Gefühl haben, einer Technologie nicht ausgeliefert zu sein. Anwendungen, die auf KI basieren, müssen daher als zuverlässig, transparent und verständlich wahrgenommen werden, um Akzeptanz zu fördern. Dabei spielt es eine zentrale Rolle, dass Anwenderinnen und Anwender den Eindruck gewinnen, dass die KI tatsächlich ihrem persönlichen Wohlergehen dient – und nicht primär der Gewinnmaximierung der Anbieter. Aus psychologischer Sicht ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung entscheidend für die Nutzung solcher Technologien.

 

Dieses Interview ist ein Auszug aus dem Trendreport Ernährung 2025, Trendreport Ernährung 2025, der in Kooperation mit dem Bundeszentrum für Ernährung (BZfE), der Dr. Rainer Wild-Stiftung, der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Heilbronn und EIT Food Region West konzipiert und erstellt wurde.


Den gesamten Trendreport Enährung 2025 mit den 10 Trends hier herunterladen oder die Zusammenfassung hier lesen:


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